Egal, wie man sich selber die Welt erklärt: Kreativität ist ein Akt der Schöpfung und eine ergreifende Sache, die uns bis in die letzte Faser fesselt. Ganz besonders in der Musik, wo der praktische Aspekt eines Werks weit weniger wichtig ist wie dessen Schönheit.
„Kreativität“ ist DAS Mysterium der Menschheit. Alles, womit wir uns umgeben, musste irgendwann entstehen, und die oftmals atemberaubende Eleganz wirft beim einen oder anderen sofort die Frage auf, was wohl da wieder für ein Genie am Werk war. Die Kreationisten sind überzeugt, eine Höhere Macht habe unser Universum mit all seinen Wundern bestückt; derweil finden die Evolutionisten das Schwachsinn und erklären alles mit dem Zufall. Kreativität scheint jedenfalls nichts zu sein, zu dem man sich entschliesst. Man geht nicht hin und sagt sich: „So, für die nächste halbe Stunde bin ich jetzt mal kreativ.“ Viel mehr kommt man irgendwann wieder zu sich und stellt verblüfft fest, dass man gerade eine kreative halbe Stunde hatte. Auch wenn wir unsere schöpferische Kraft nicht per Knopfdruck aktivieren können, gibt es doch ein paar Dinge, die Kreativität erschweren.
Charles Limb ist Neurochirurg, Musiker und Jazz-Aficionado. Verständlicherweise ist er interessiert an Kreativität, und als Neurologe schaut er sich eben gerne Gehirne an. Also liess er zuerst ein paar Menschen bei sich im Labor in den Gehirnscanner liegen und am Klavier improvisieren.
Dabei geschieht vor allem in zwei Regionen des Frontallappens im Gehirn einiges: Die Region, die normalerweise für Selbstbeobachtung zuständig ist und die dafür sorgt, dass wir im Alltag nicht komplett aus der Rolle fallen, stellt praktisch ab. Dafür fängt die Region, die normalerweise für Selbstreflektion zuständig ist und mit der wir über uns und unser Leben nachdenken, richtig an zu rotieren.
Je mehr wir also in der Lage sind, die Kontrolle über uns selber aufzugeben, desto kreativer können wir sein.
In einer nächsten Studie improvisierte ein Versuchs-Pianist im Gehirnscanner zusammen mit jemandem, der ausserhalb sass. Wie in einem Dialog solierte zuerst der eine, dann der andere, und so ging das eine Weile lang hin und her. Im Scan ist deutlich erkennbar, wie das Sprachzentrum hochaktiv ist.
Wenn zwei Musiker miteinander improvisieren, ist es für das Gehirn dasselbe, wie wenn sie miteinander sprechen.
Der nächste logische Schritt war, jemanden sprachlich improvisieren zu lassen. Darum ging Charles Limb raus und holte sich ein paar Freestyle-Rapper ins Labor. Auch sie mussten sich in die Röhre legen und dann anstatt auf dem Klavier zu spielen eben freestylen. Sie bekamen ein Stichwort und mussten dazu rhymen, bis das nächste Stichwort kam, und dann mit dem weitermachen. In diesem Versuch leuchtete bei den Labor-Rappern die Hirnregion im Scan auf, die für das Sehen zuständig ist.
Um sprachlich zu improvisieren, brauchen wir eine Vision.
Dieser nächste Herr setzt an einem anderen Ende an, wenn er über Kreativität redet: Langeweile. Für ihn sind nicht Momente des Kontrollverlusts der Nährboden für Kreativität, sondern die Ödnis der Langeweile. Er langweilt sich wegen der Restriktionen einer Beethoven-Komposition und eine Sekunde später wegen Grenzen, die ihm ein traditionelles Klavier auferlegt. Für den umtriebigen Künstler Mark Applebaum ist Musik so etwas Individuelles, dass er über kurz oder lang auch seine eigenen Instrumente konstruieren musste, um die Musik machen zu können, die er spannend findet. Und wer seine eigenen Instrumente baut, für den sind eigene Notationssysteme irgendwie nichts verwunderliches mehr. Natürlich durchbricht er auch die Grenzen dessen, was gemeinhin unter „Musik“ verstanden wird (besonders fabelhaft: Das Stück für drei Dirigenten, aber keine Musiker. Wer vorspulen will, peile die 11. Minute an).
Beide Vorträge sagen im Wesentlichen dasselbe, auch wenn beide dazu eine ganz eigene Sprache brauchen: Kreativität ist kein vorgegebener Prozess. Kreativität findet abseits der viel begangenen Wege statt. Kreativität ist das Individuellste, was wir leisten können. Der Exzentriker Mark Applebaum ist ein wundervolles Beispiel für eine Person, die in den Worten von Charles Limb die Kontrolle aufgeben kann, wenn er sagt:
„I allow my creativity to push me in directions that are simply interesting to me, and I don’t worry about the likeness of the result to some notions […] of what music […] is supposed to be.“
Und Charles Limb ist unser Held der Woche, weil er sich einfach nicht um Genregrenzen in der Musik schert und ganz offensichtlich verstanden hat, dass überall Musik geschieht.
Bild: http://www.gratisography.com
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